Ferien in Kanada 2002
Fotos
Toronto erreichen wir nach einem pünktlichen Flug mit viel Sicht auf den St. Lawrence River und das weite, weite Land am Nachmittag. Der Immigration Officer findet, 40 Tage Ferien in Kanada seien sehr vernünftig geplant. Unser Hotel, das Delta Chelsea, entpuppt sich als ein Riesending mit knapp 1600 Zimmern und – wir können unsere Verfressenheit schlecht verbergen – einem vorzüglichen Restaurant mit ebenso vorzüglichem Service. Letzteres scheint aber in dieser über endlose Fläche ausgebreiteten Dreimillioneneinwohnerstadt das Selbstverständlichste zu sein, das Minimum sozusagen. Derartige Aufmerksamkeit und Freundlichkeit aller möglichen Berufsleute ist uns noch nirgendwo und zu keinem Zeitpunkt so ins Auge gesprungen und ins Ohr gegangen wie in hier.
Die
Stadt schauen wir durch Erinnerungen an, die von den wenigen anderen von uns
je besuchten Grossstädten geprägt sind, als da sind: New York, San
Francisco, Boston beispielsweise. Der Aufbau der Stadt ergibt irgendwie kein
Bild. Da ist die übliche Hässlichkeit, die man in grossen Städten an
vielen Ecken findet, die sich in schattigen Hinterhöfen mit schwarzen
Feuerleitern, Abwasserrohren und Leitungen den Fassaden entlang, öden
Parkplätzen, leerstehenden Geschäften, lieblosen Schaufenstern und Müllsäcken
manifestiert, durch die von Baumbestand und Gärten bare Städtelandschaft,
in der sich auf breiten Einbahnstrassen Unmengen von Autos bewegen. Wenige Gärten
und Parks und Bäume und überhaupt nicht die Handlichkeit von Boston; auch
nicht das ästhetische Bild der Hochhauslandschaft New Yorks und schon gar
nicht die bunte Quirrligkeit des pazifischen San Francisco.
Toronto
ist schwierig zu fassen mit seinem Sammelsurium an grossartiger Hochhausarchitektur
neben höchst Belanglosem oder Kitschigen, das im neoromanischen Parlament
von Ontario kulminiert, mit den endlosen Blocks von niedrigen Wohnhäusern
und kleinen Parks, in denen die Heilsarmee für die Obdachlosen sorgt (um
die sich sonst wohl auch die Bevölkerung kümmert). Sogar die Art Gallery
of Ontario, das grösste Kunstmuseum der Stadt mit wohl der grössten
Sammlung an Henry Moore-Plastiken und –Gipsen und sonstigen Sammelstücken
des Künstlers, mit wunderbarer Inuitkunst und einen Miniquerschnitt durch
die europäische Kunst der letzten 600 Jahre, sogar dieses Museum liegt an
einer schmuddeligen Strasse, die von heruntergekommenen Häusern und
ungepflegten Gärten gesäumt wird. Dann gibt es noch Downtown-Toronto, und
das sind einige Kilometer Mall unter der Erde, in die man sich im Sommer flüchtet,
wenn es zu heiss ist und im Winter, wenn man an der Oberfläche einfrieren würde.
Die Mall ist eine klimatisierte Welt für sich, voller Menschen, voller
Ausstattungsstile, die auf das hinweisen, was man an der Erdoberfläche
findet: beispielsweise Banken und Versicherungsgebäude etwa dort, wo die
Mall in elegantem Naturstein mit designten Lampen und witziger Kunst
ausgestattet ist.
Oben
an erwähnter Erdoberfläche wälzt sich derweilen der Verkehr durch, ganz
friedlich, und man hört überhaupt keine Polizeisirenen, die in
amerikanischen Städten ubiquitär und akustisch dominant sind. Wir wandern
zum Lake Ontario, keine schöne, aber eine gerade Strecke vorbei am 500
Meter hohen Fernsehturm, an dessen Fundament sich die Touristen stauen, die
mit dem Lift nach oben wollen, wo sie nicht viel sehen werden, weil es so
dunstig ist. An einem Strassenstück sind bronzene Fische eingelassen, Stör,
Lachs und viele andere mehr, die man aus dem See oder dem Strom angeln kann.
Ein Herr macht darauf aufmerksam, als er unser Interesse an den
Bronzefischen bemerkt. Heiss ist uns und durstig sind wir, sodass wir in das
nächste Restaurant einkehren und feine Linsensuppe essen und Wasser
trinken, dabei durchs Fenster auf das Strassenwirrwarr schauen, vor allem
aber auf die Baustellen am Stadtrand, die einen vergessen lassen, dass wir
jetzt nicht in Boston, sondern in Toronto sind. Die Füsse sind müde, wir
beschliessen, ein Taxi zum Hotel zu nehmen, was wir dann doch nicht machen,
sondern weiterhin aus eigener Kraft die Stadt erkunden.
Auf
unseren Wanderungen durch die Stadt kommen wir zu einem kleinen botanischen
Garten, auf einen alten Friedhof im ältesten Viertel der Stadt und nach
Chinatown. Letzteres ist geruchsintensiv und farbstark. Wir fotografieren
wie die Weltmeister. Ein Chinese bedeutet mir, das, was ich gerade
fotografiert habe, auch auszuprobieren. Winzige Krebschen und Fischchen und
Unbekanntes befindet sich in den vielen Gefässen. Ich nehme ein weisses
festes Stückchen aus der Schüssel. Es schmeckt gut, meerfischig und ist
vermutlich ein Stück Tintenfischarm. Nonverbal verständigen wir uns: ich
drücke meine Zufriedenheit über das Geschenk aus und der Chinese bedeutet
mir, dass ihm klar war, mir etwas Gutes empfohlen zu haben.
Halifax
erreichen wir am 20. Juli nach einem halbwegs pünktlichen Flug mit viel
Sicht auf Toronto und vielen Wolken über dem weiten Land um die
Mittagszeit. In Nova Scotia herrscht atlantischer Sommer, will sagen: warme
Tage, kühle Abende und recht kühle Nächte. Am Montag beginnt die South
Shore Fair, die Landwirtschaftsausstellung für die Südküste von Nova
Scotia mit Rummelplatz und Attraktionen wie Ox Pull.
Wir
wandern durch die Ställe mit Pferden, wobei dieses Jahr die ganz grossen
Shire Horses mit einer Risthöhe von 230 Zentimetern nicht vertreten sind.
Dann die Ochsen, die immer paarweise und auch beide von derselben Rasse in
ihren Abteilen stehen. Es gibt kleine und ziemlich grosse und in allen
Farben. Sie sind rund wie die Fleischkühe, die einen anderen Stall belegen
und ganz anders als die knochigen Milchkühe ausschauen, die offensichtlich
alle Energie in ihre Milch kanalisieren müssen. Riesen- und Zwergesel und
Kleinpferde sind ausgestellt und alle Arten von Geflügel. Im Geflügelstall
hebt ein grauenhaftes Dauer-Gezeter an, die Truthühner und die Gänse
versuchen, sich gegenseitig zu übertrumpfen, wobei uns der Auslöser des
Wettgeschreis unerklärlich bleibt. Die Hühner und Enten ducken sich ganz
still in ihren Käfigen und machen die ganze Zeit keinen Mucks. Die Tiere
sind fast alle prämiert mit Plätzen von 1 bis 10. Dasselbe gilt auch für:
Kekse und Kuchen, Salate, rote Rüben, Tannen, Quilts. In den Ställen
herrscht bäuerliche Geschäftigkeit, wie es aussieht, sind die Tierbesitzer
selber dafür zuständig, dass bei ihren Tieren gemistet und gefüttert
wird. Sie sitzen die meiste Zeit in den Durchgängen, haben
Styropor-Warmhaltegefässe in den Händen mit irgendetwas zum Essen und
Trinken drin, reden miteinander oder machen sich eben bei ihren Tieren zu
schaffen.
An
jenem ersten Tag der Messe ist ein Wettbewerb für einspännige
Pferdekarren, ein Defilee von allen Unternehmen, religiösen und weltlichen
Vereinen, sämtlichen Feuerwehren der ganzen Region. Dazu gehören auch ein
Tanklastzug mit Anhänger in der üblichen amerikanischen Grösse und Länge,
mit Pompons an den Radkappen verzierte Limousinen eines Autoverkäufers,
Hundeführer, Dudelsackpfeifer, Cheer Girls, radschlagenden Mitglieder eines
Turnvereins. Die Tribünen sind am Nachmittag noch spärlich besetzt. Wir
suchen gute Aussichtsplätze für den Ox Pull auf, das Ochsenziehen, das nun
jeden Tag mehrmals durchgeführt wird und gegen Ende der Fair in einer
internationalen Ausscheidung (USA-Kanada) gipfelt.
Die
Ochsen sind die erwähnten hübschen Paare, deren Kummets an die Hörner
gebunden sind und die von einem Traktor herangekarrte Gewichte ein kleines
Stückchen ziehen müssen, immer mehr Gewicht, bis die Ochsen nicht mehr können.
Die Zwischenrunden sind lange Zeitabschnitte, während derer die
Ochsenmotivation stattfindet. Dann redet der Ochsenführer mit seinen
Tieren. Das Ziehen selbst nimmt Sekunden in Anspruch, die Ochsen, die eben
noch ihre Köpfe an den Körper ihres Führers drückten, werden nun durch
Zurufe zur Leistung motiviert, und dann ist wieder Pause. Ein junges
Ochsenpaar ist so zugfreudig, dass es gar nicht mehr stehen bleiben will, wo
das Gewicht so schön gleitet, es ist schon nach der ersten Runde
disqualifiziert. Ihr Führer nimmt es sehr gelassen, wie alle Leute hier.
Gelassenheit ist eine neuschottische Charaktereigenschaft, die sich überall zum Ausdruck bringt – beim Autofahren ebenso wie an der Supermarktkasse, aber auch darin, dass man grundsätzlich tagelang und weit über einen zugesagten Termin wartet, bis der Reparaturmann wirklich auftaucht oder eine Bestellung ausgeliefert wird. Gelassenheit macht wohl auch, dass jene, die ihre Ochsen am wenigsten fordern, den meisten Applaus erhalten.
Unser
Auto ist natürlich nicht unser Auto, sondern es gehört unseren Gastgebern
Johann und Evelyne, die wir damit einige Tage nach unserer Ankunft auf den
Flughafen begleiteten. Johann meinte, als die ersten Flugzeuge ins
Gesichtsfeld rückten und die Luft bereits von Kerosin parfümiert war, die
Nähe des Flughafens beruhige ihn jedesmal (ich denke: ist wohl so bei einem
Psychiater mit Spezialgebiet Angstneurosen...) Fürsorglich erklärt er uns
noch das Mobiltelefon "für Notfälle" im Auto, die wir uns
allerdings nicht ohne weiteres vorstellen können.
"Unser"
Auto ist ein Toyota Previa Baujahr 1992 mit rund 160'000 Kilometern, was
hierzulande ein ziemlich junges Auto ist. Am 2. August fahren wir
nachmittags nach Bridgewater, der nächsten grösseren Stadt, um ein
externes Modem zu kaufen. Stephan ist nicht besonders überzeugt, dass dies
die E-Mail-Probleme lösen wird, von denen wir auf beiden Computern mehr als
reichlich haben dieses Jahr, ist einfach ein Versuch, und die Leute meinten
am Telefon, sie hätten alles hardware- und software-mässig auf Lager. Ein
paar Kilometer von unserem Haus entfernt mag das Auto nicht mehr
beschleunigen, die Warnlampen leuchten der Reihe nach alle auf, ich lenke
auf den Rasenstreifen, stelle ab, danach steht das Auto still. Der
Telefonempfang ist an dieser Ecke lausig, aber immerhin können wir mit der
Toyota-Garage in Bridgewater Kontakt aufnehmen (das mit dem Psychiater für
Angstneurosen nehme ich augenblicklich zurück), wo man uns Hilfe zusagt
"as soon as possible". Stephan und ich spazieren ein wenig die
Port Medway Road entlang, den Zubringer zum Highway, auf dem wir gestrandet
sind und der so "scenic" ist, dass man alle paar Meter ein Foto
machen könnte (fürs ganz Kitschige müsste man allerdings nach Peggy's
Cove, die Gemeinde, die sich den Swissair 111-Untergang geschnappt hat,
obwohl das Flugzeug in der Nachbarbucht unterging).
Da
kommen unsere Schweizer Nachbarinnen vorbei und nehmen auf mein Drängen
Stephan mit (damit wenigstens etwas erledigt ist an diesem Nachmittag und
weil ja nicht zwei Leute bei einem liegen gebliebenen Auto warten müssen),
denn sie müssen auch nach Bridgewater.
Dummerweise unterbleibt die Frage, wohin sie sonst
noch müssen. Stephan fährt widerwillig mit ihnen weg, nachdem er mir
Telefon und Geldbeutel mit Führerschein und Kreditkarte gegeben hat, ich
spaziere wieder der Port Medway Road entlang, bemerke aber ziemlich schnell,
dass ich keinen Autoschlüssel habe, sause zum Auto zurück, wo auch kein
Schlüssel ist.
Nova
Scotia ist die Hochburg der Stoiker, und an so was muss man sich halten,
wenn man ohne Autoschlüssel ein fahruntüchtiges Auto handzuhaben hat.
Wenige Leute fahren vorbei, die einzige Person, die hält und fragt, ob sie
helfen kann, ist eine Dame in einem weissen Cadillac. Ein rot-chrom-glänzender
Truck kommt auch vorbei, mit prächtiger Ladefläche, angesichts derer ich
mir denke, der wäre gerade richtig für mich. Da wendet er auch schon und
kommt irgendwie vor unser Auto zu stehen. Ich erkläre Dean (hier haben die
meisten Berufsleute den Namen aufs Hemd geschrieben) das Problem. Kein
Problem für Dean, er hievt das Auto auch ohne Schlüssel auf den Truck. Von
linken Hinterrad, das auf der Strasse stand, bleibt eine Art Bremsspur auf
dem Asphalt zurück.
Dean
erklärt mir auf der Fahrt nach Bridgewater, dass es bei Bob and the Boys
weitum die besten Früchte und Gemüse gibt und zeigt mir das Osprey-Nest an
einem See am Highway. In der Toyota-Garage machen sie erst einmal einen
Nachschlüssel, der allerdings in jenem Augenblick überflüssig ist, weil
kein Schlüssel der Welt das Auto zum Laufen brächte. Beim Computerladen,
den ich als allererstes anrief, versicherte mir die Dame, der Mann sei schon
vor langer Zeit wieder weggegangen. Zuhause meldet sich kein Mensch. Ich
bekomme ein Mitauto und fahre damit nach Hause, wo niemand ist und gehe zu
Nachbars rüber, weil ich ja keinen Schlüssel habe. Stephan ist noch nicht
da, denn die Frauen sind noch weiter gefahren. Sie kommen wenig später. Ein
Modem hat Stephan nicht bekommen, "vorrätig" meinte offenbar:
"irgendwo in einem Lager in Atlantic Canada", und gewartet hat er
auf mich stundenlang vor der Computerladentür, weil er dort merkte, dass er
den Schlüssel hat.
Ein
paar Tage später rufen wir bei der Garage an, aber sie haben das Problem
noch nicht gefunden. Wir sind ein bisschen skeptisch, was überhaupt
passiert und fahren zum Nachfragen vorbei. Das Auto steht jetzt hinten auf
dem Hof, sein Standplatznachbar ist ein Studebaker von 1939. Unser Auto
schaut innen aus wie nach einem Überfall durch die Zollbehörde: Sitze
draussen, Teppiche draussen, alles, was aufgerissen werden kann, liegt
offen, man sieht sogar, dass der Motor zwischen den Vordersitzen ist (man hört
ihn kaum im Fahrgastraum), ein Buch mit elektrischen Schaltkreisen liegt
aufgeschlagen dort, wo sonst zwischen den Vordersitzen wäre, denn dass es
ein elektrisches Problem sein muss, war schon wegen der panisch gewordenen
Warnlichter klar. Stephan kompensiert den Schrecken mit Fotos in
Schwarzweiss und Farbe. John kommt zu uns heraus und erklärt, dass sie
immer wieder neuen Hypothesen nachgingen, aber das Problem noch nicht
geortet sei. Er hat den Previa seiner Frau (auch Baujahr 1992, 240'000
Kilometer) für zwei Tage in die Garage genommen, um alle ausbaubaren Teile
inklusive Bordcomputer auszutesten, und alle Teile haben funktioniert. Das
Auto findet er so grossartig, dass sie den Fehler auf alle Fälle finden
wollen. Wir denken uns, in der Schweiz hätten sie schon 100'000 Kilometer
früher Verschrotten vorgeschlagen.
Zwei
Wochen später rufen wir mal wieder an. Sie haben das Problem gelöst: eine
defekte Spule. An unserem Auto ist nun alles neu, das irgendwie nicht mehr
ganz in Ordnung war. Das ist wohl so eine Philosophie von hier: erst
auswechseln, wenn es Probleme gibt. Ein Autoservice besteht nämlich
routinemässig bestenfalls aus einem Ölwechsel.
Pieh Ieh Ai
Prince
Edward Island – keine Ahnung wer wann die Idee hatte, dass wir dort hinauf
fahren, sozusagen Ferien in den Ferien machen, was Stephan eigentlich ganz
dekadent findet. Aber wir haben vorher viel gearbeitet, alle Regentage genützt
und alle Sonnentage uns damit getröstet, dass es draussen sowieso zu heiss
ist, und irgendwann ist der unausgesprochene quasi-kollektive Beschluss (N =
2) klar: Christens brauchen Tapetenwechsel. PEI war schon vergangenes Jahr
kurz ventiliert worden, nicht besonders ernst, denn man muss von
"zuhause" aus 400 Kilometer fahren (in der Schweiz wäre man also
über alle möglichen Landesgrenzen), bis man überhaupt am Northumberland
Strait ist und dann noch irgendwie rüberkommen, auf der Brücke oder mit
der Fähre.
Also,
2001 sind wir überhaupt nirgendwohin gefahren, sondern haben
"zuhause" am South West Cove genossen, vor allem die Bucht, in der
sich das Wasser des Medway River mit dem des Atlantik mischt, wo einen schönen
August- oder Septembertag lang die Grillen ihre hochsirrenden Töne
verbreiten, die Möwen sich um die Fische streiten, gelegentlich ein
Kormoran, ein Osprey (der einheimische Fischhabicht) und noch sehr viel
seltener ein Adler (sei es Weisskopf… oder Fisch…) über das Wasser
gleiten, Gänseschulen das Fliegen im Zug zum Winterquartier üben, Blue
Jays schreien, der Yellow Flicker (ein gelbschnabeliger braungesprenkelter
Specht) akustisch sein Revier des morgens früh auf dem Dach absteckt in den
Varianten "Hämmern" und "Bohren", wo die Eich- und
Streifenhörnchen mit Warngegeckere hin- und hersausen, wo eine grosse
beim Hausbau sieben Jahre zuvor geschaffene Brachfläche langsam und
beharrlich von der Natur übernommen und überwachsen wird und des
menschlichen Eingriffs harrt (sehr human-zentrierte Sicht, ist schon klar),
damit Quasi-Wildnis zu Quasi-Garten mutiert. Also, 2001 blieben wir
standhaft und "zuhause". 2002 blieben wir nicht standhaft, und das
war gar nicht zu unserem Nachteil.
PEI
ist gewaltig schon und nur mit Mühe einigermassen adäquat zu beschreiben.
Unsere Unterkunft haben wir zwei Tage vor unserer Abreise per Internet
ausgesucht und dabei allzu Kanadisches (will sagen: Bettkantenhöhe auf 1.5
Meter über Fussboden, Baldachin, dicke flauschige staubige Teppichböden,
alles in braun-beige-türkis-altrosa, Illustrations-Hinweis: Sears-Katalog:
Bettzeug-Abteilung) vermieden, die Motels direkt an der Strasse ausgeschieden
wie auch die Cottages, die in der kahlen Wiese stehen, und wir haben uns für
einen Inn entschieden, der von den Bildern her innen und aussen sehr
einladend wirkte, am Mühlteich, wie die Beschreibung sagte. Der Inn ist so
wie ganz PEI, einfach schön. Alles ist irgendwie rund wie eine Fleischkuh
(das Bild kommt von der South Shore Fair, wo man Milch- und Fleischvieh
miteinander verlgeichen konnte, die einen halt sehr knochig und die andern
rund).
Die
Besitzerin des Inns war das letzte Baby, das an einem stürmischen
Dezembertag im Jahre 1940 dort im Haus geboren wurde, wo heute der Frühstücksraum
ist. Ihr Mann ist Schwede, und auch die Glasfasertapeten sind schwedisch.
Wohnen tun sie in Halifax, denn der Herr des Hauses ist Treuhänder und hat,
wie er erzählt einen Schweizer Kunden, Weingutbesitzer im Valley, dem er
tags zuvor berichtete, er habe Gäste aus der Schweiz. Hans Stutz und Family
haben wir die letzten Jahre bereits im Valley in der Domaine de Grand Pré
besucht. Verblüfft sind wir aber, dass man selbst im zweitgrössten Land
der Welt Leuten begegnet, die Leute kennen, die man kennt.
Der
Inn ist also ein ehemaliges Bauerngehöft und beherbergt heute: Japaner,
Amerikaner, Kanadier. Wir Europäer sind sozusagen nicht vertreten, was sich
in der Interpretation von "deluxe continental breakfeast"
widerspiegelt: dünner Kaffee und viel süsses Zeug. Warum zieht's die
anderen Nationen magisch nach PEI? Japaner lesen eben Lucy Maud
Montgommery's Kinderbuchserien von "Anne of Green Gables" als
Schulbuch und suchen deshalb das mickymousige Cavendish auf, wo die
beschaulich-idyllischen Geschichten aus dem vorletzten Jahrhundert spielen;
Amerikaner und Kanadier haben diese aus sprachwissenschaftlicher Sicht
harmlose Literatur in ihrer Kinderzeit genossen und gehen im
Erwachsenenalter auch back to the roots.
Was
man PEI zugute halten muss: nur wenig abseits dieser Disney-Welt herrscht
– zwar gebändigt, aber es könnte auch von sich aus so sein – die
Natur. Man muss sie vor den Hominiden schützen, weil die hemmungslos darüber
walzen. Abschrankungen und Tafeln mit dem Hinweis auf die Fragilität der
Wanderdünen mit ihrer zarten speziellen Grasdecke bitten kein Fünkchen
Einhalt, wenn oben auf der Düne der beste Aussichtspunkt geortet und daher
sogleich aufgesucht wird. Man kann sich auch vorstellen, dass die Tafeln,
die ein Eintreten in das Brutgebiet der bedrohten Vogelart Ploving Piper in
den Dünen untersagen, geradezu eine Einladung sind nachzuprüfen, ob die Vögelchen
wirklich so schreckhaft sind. Poison Ivy, die recht unangenehme dreiblättrige
Efeu-Art, ist hier halt zu wenig verbreitet, als dass man damit die Menschen
zurückhalten halten könnte. So führen menschliche Spuren überall dort
durch den Sand, wo sie nicht zu finden sein sollten. Einziger Trost: Die Dünen
sind vielleicht ohnehin bald einmal weg, denn die Insel schrumpft Jahr um
Jahr. Sie ist nämlich aus rotem Sandstein, vor 5000 Jahren durch den
Anstieg des Meeresspiegels erst vom Festland (d.h. Nova Scotia) getrennt,
und dieses poröse Gestein wird von Wind und Wellen stetig abgeleckt wie ein
Schleckstängel, laut entsprechenden Tafeln an den Klippen rund 1 Meter jährlich.
Man kann sich leicht vorstellen, dass vor 5000 Jahren die Insel nach allen
Seiten 5 Kilometer grösser war, der Abstand zum Festland wäre dann nur
5-10 Kilometer gewesen und nicht 15 wie heute.
Der
Sandstein mit der Farbe von deutschen gotischen Kathedralen (Freiburg,
Worms, Speyer) leuchtet überall vor sich hin. Tannen wachsen darauf und Gebüsch
und noch Niedrigeres. Schwalben nisten knapp unter der Grasnabe in kleinen Höhlen.
Der Sandstein geht an der Küste nahtlos in den aus zerriebenen Muscheln und
Schnecken bestehenden Kalksand über, mischt sich zu einem Hellbraun, das
nur dort rot wirkt, wo der Sand nass ist. Dieser nasse Sand ist fest und in
der Sonne heiss. Das Meer ist im Sommer warm, und man kann stundenlang im
Prince Edward National Park diesen Stränden entlang gehen – wenn man
nicht schwimmen gehen möchte. Das wiederum ist auch so ein Faszinosum: Der
St. Lorenz-Strom führt im Winter Packeis, Frühling ist spät und kurz, und
kaum ist der Sommer gegen Ende Juni da, ist das Wasser bade-warm, ein
bisschen weiter östlich zwischen Mainland und PEI würde das Wasser auch für
ein Rheumabad taugen. Bei uns "zuhause" an der Südküste von Nova
Scotia, im Einflussbereich des Labradorstroms, ist der Atlantik hingegen im
Normalfall unfreundliche neun Grad kalt und nur an wenigen Tagen, die sich
gelegentlich zu sehr wenigen Wochen weiten, so warm, dass man es wirklich
gut darin aushalten kann.
Zurück
nach PEI. Die kanadische Enzyklopädie hat dazu einige Kennzahlen, die
typisch statistisch sind und gar nichts sagen, wenn einem die Bezugspunkte
fehlen. PEI beherbergt 0.5% der kanadischen Bevölkerung (rund 29 Millionen
Kanadier soll es geben) und hat als bevölkerungsreichste (zugleich
allerkleinste) aller kanadischen Provinzen 23 Einwohner pro
Quadratkilometer. In der Schweiz haben wir 160 Bewohner auf einen
Brutto-Quadratkilometer (d.h. jeden Quadratkilometer unbewohnbarer
Alpenfels mit eingeschlossen). Das sind Verhältnisse, nicht wahr?! PEI ist
Rindvieh-, Kartoffel- und Getreideland. Tatsächlich ist diese winzige Insel
wirklich wichtig für den kanadischen Rindfleisch-, Milch- und Kartoffelnachschub.
Die Insel teilt sich in drei Grafschaften – Counties, nach englischem
Vorbild – wovon die mittlere (Queens) offensichtlich die wohlhabendste
ist. An der Nordküste von Queens befinden sich erwähnte Ortschaft
Cavendish (aus der man schon wieder draussen ist, bevor man gemerkt hat,
dass man drin ist) und erwähnter Nationalpark. Hier stehen eine Menge
Farmen, deren Farmhouses mehr oder weniger grosse Herrschaftshäuser (aus
Holz selbstverständlich, wie unser Inn) sind, überaus gepflegt, und
dahinter, farblich abgestimmt und ebenfalls überaus gepflegt die
Wirtschaftsgebäude entsprechend dem, wovon der Betrieb lebt: Getreide- oder
Kartoffelsilos, Stallungen für Pferde und Milch- und Fleisch-Rindviecher
(erstere häufig Holsteiner, zweitere u.a. Charolais), Schafe, Ziegen, Lamas
(selten), Esel, Maultiere (die vielleicht auch Maulesel sind). Das Farmhouse
und die Wirtschaftsgebäude sind manchmal an den Waldrand gedrückt, häufig
aber thronen sie inmitten von Kartoffeläckern, Getreidefeldern, Viehwiesen
(je nachdem eben). Der schönste aller Kartoffeläcker, den wir leider nicht
fotografierten, geht nahtlos in einen englischen Rasen über, als sei er
(der Kartoffelacker) ein Blumenbeet. Ein anderer Acker war ringsum von einem
schmalen Streifen Hafer gesäumt. In Prince westlich und Kings östlich von
Queens kommt man allerdings auch an vielen Farmen vorbei, die arm aussehen,
denn offensichtlich gelingt es nicht allen Bauern in PEI, mehr als das Nötigste
zu erwirtschaften (oder genügend subventioniert zu werden).
Tourismus
ist, wie schon angedeutet, ein wichtiger Wirtschaftszweig, und er ist auch
vor allem nach Queens kanalisiert, obgleich diese Insel nun wirklich überall
ausgesprochen ansehnlich und abwechslungsreich ist. Queens ist der hügeligste
Teil der Insel, die Wälder und Felder tauchen aus Talsenken auf, heben sich
über Hügelrücken, verschwinden irgendwo in der Nähe einer Meeresbucht,
eines Flusses, eines Sees. Prince ist flach, riesige Landwirtschaftsfläche,
an der Küste brutal abgeholzt, wohl früher, als diese Insel wegen
Schiffsbau und Fischerei wirtschaftlich florierte. Kings ist eine Mischung
der beiden anderen Counties: leicht hügelig, aber weniger uneben als
Queens. Mitte der 1990er-Jahre soll es hier noch Tabakfelder bzw. -gewächshäuser
gegeben haben. Inzwischen haben einige der ehemaligen Tabakbauern auf Rebbau
umgestellt und kultivieren Hybrid- und Europäersorten in Gewächshäusern,
die in der einzigen Weinkellerei des Insel – Rossignol – an der Südküste
zu Wein verarbeitet werden. Der Kellereibesitzer ist so selbstbewusst, dass
er seine (Reben-)Weine auch nach Europa auf Wettbewerbe schickt und dort zu
Ehren kommt. Selbstverständlich wird auch noch anderes zu Wein vergoren:
Rhabarber, Erdbeeren, Blaubeeren, allesamt auf der Insel gewachsen. Das Land
ringsum ist flach und kahl, die ersten Siedler hier im 18. Jahrhundert haben
bereits Feldbau betrieben und die zugängliche Topographie (vergleicht man
etwa mit der harschen Oberfläche des Nova Scotia-Küstengebiets) genutzt.
Über Reben und Rhabarber hinweg sieht man Cape Breton und das Mainland von
Nova Scotia und die beiden Fähren auf ihrem Kurs zwischen Wood Island und
Caribou.
Wie
in den meisten anderen kanadischen Provinzen, ist die Alkoholverteilung
staatlich geregelt. Auf PEI gibt es sogar noch solche Liquor Stores, die
Stephan an Schweden der 1970er-Jahre erinnern: Eingang wie in einem alten
Kino, die Wein- und Spirituosenflaschen sind hinter der Theke, die Publikum
und Ausstellungsraum trennt, aufgereiht und werden ausgehändigt. In Toronto
waren wir verblüfft, wie ästhetisch und grandios assortiert diese
Staatsbetriebe sind. In Nova Scotia hatte uns wegen der staatlichen
Reglementiertheit und der Tatsache, dass auf jedem Papier- und Plastiksack
eine Notiz steht, welch Teufels der Alkohol ist, verblüfft, dass an den nördlichen
Highways Hinweistafeln auf sämtliche Weinproduzenten der Provinz stehen.
PEI übertrifft alles bisher Gesehene: hier ist sogar jeder einzelne Liquor
Store auf ganz offiziellen Strassentafeln ausgeschildert (englisch oder
französisch oben, je nachdem, welche Sprache im Distrikt dominiert)! Das
Weinangebot ist lausig. Hingegen: bis hin zur Gallonengrösse ist das
Angebot an Hochprozentigem in Form von Gin und Wodka GEWALTIG.
Labradorstrom,
kalt, schöne Sandstrände, das ist die South Shore von Nova Scotia. Wassernormaltemperatur
im Sommer 9 Grad Celsius, ab 12 Grad gehen die Einheimischen, vor allem
solche im Kindesalter, ins Wasser. Es kann für Stunden oder auch für Tage
halbwegs erträglich warm werden. Wenn meteorologisch ganz Schlimmes
Tausende von Kilometern weiter südlich passiert, wie etwa Hurricanes über
Florida, dann wird's sogar sehr ordentlich war. Was dieses Jahr los ist,
wissen wir nicht. Jedenfalls ist das Wasser auf einmal erträglich.
Am
12. August messen wir in Beach Meadows bei Ebbe knappste 12 Grad, der Wind
war kühl, da haben wir uns gleich wieder verzogen. Am Nachmittag hat das
Wasser bei Flut bereits 15 Grad, aber der Wind ist immer noch kalt. Rissers
Beach 40 Minuten später wartet mit 19 Grad auf, also nichts wie hinein.
Stephan hat das fotografisch dokumentiert. Er fand das für sich zu kalt.
In
den nächsten Tagen schwankt die Wassertemperatur zwischen guten 17 und
knapp 19 Grad, war meistens 18 Grad, ausserhalb vom Windschatten
Kabbelwasser und Wellen, Wasser klar wie immer und der Strand bevölkert,
dass der Rest von Nova Scotia halbleer sein muss. Am Sonntag gab's nicht
einmal einen ordentlichen Parkplatz, wir haben uns deshalb unordentlich
hingestellt und fanden später, beim Zurückkommen noch einige Nachahmer.
Rissers Beach: Das ist auf einem gewundenen Holzsteg über die Salzmarsch
wandern, über das Schlangen-Warngezische der Sharp-tailed Sparrows hinweg,
an hungrigen "kleinen" voll ausgewachsenen Möwen und manch
anderem Wasser- und Landgetier, so auch an die Marsch durchhüpfenden
White-tail Deers vorbei.
Wenn
Ebbe ist, dann gehen die Leute mit Plastik-Säcken im Flachen nach Sand
Dollars Ausschau halten. Es müssen ganze sein, das ist hier die
ungeschriebene Regel. Weil das alle machen, machen wir es auch und finden
einige als Souvenirs für nach Hause. Schwimmen tun wir ausserordentlich
lange, bedenkt man die Wassertemperatur, Stephan wird immer ausdauernder,
wagt sich weit ins Tiefe vor, um die Bojen zu umschwimmen – wir sind
sicher 3 Kilometer im Wasser. Hinterher sind seine Finger viereckig und blau
und seine Hühnerhaut macht ihn einen Zentimeter breiter rund um den Körper.
Er wird immer verwegener – Hintergedanke vielleicht: wenn wir schon so
weit gefahren sind…? denn es sind gute 35 Kilometer von uns bis zum Beach
– und am 22. August ist dann die Temperatur wirklich unten auf 14 Grad. Da
waten wir stundenlang durchs Wasser den ganzen langen Rissers Beach entlang.
Und dann findet Stephan, wir müssten jetzt schon noch eine Runde schwimmen,
naja, und wenn man mal drin ist, ist es vielleicht nicht gerade warm, aber
man hält eine Weile darin aus, weil die Luft so warm ist, das Meer an
diesem Tag so ruhig, die Sicht so klar.
Einmal
fahren wir auch zu einem See, wo Freunde immer schwimmen gehen. Der See ist
sehr warm, 26-27 Grad das Wasser. Die Umgebung alptraummässig: Camping im
Walde = Plastik-Häuserchen unter Bäumen im Schatten aufgestellt, der
"Gartenvorplatz" vollgeräumt mit irgendwelchem Gerät, durch das
man mit dem Auto fast durchfährt, der "Garten" eine grosse
ausgelegte Plastik-Folie in rosa oder anders pastellfarben mit den Stühlen
und allem drauf, was man braucht, um zu überdauern. Keine Mücken, das ist
hier genial, auch keine Blutegel im Wasser, wunderschöne Landschaft rings
um, der Camping-Platz so schaurig schön, dass wir wohl beide für uns
denken: dann lieber wandern am Seaside Adjunct, wenn das Meer zu kalt zum
Baden ist!
Am
letzten South Shore-Ferientag statten wir Beach Meadows noch einmal einen
Besuch ab. Der Wind ist warm, der Sand recht heiss, aber das Wasser gerade
mal 11 Grad. Wir fahren also zum Rissers Beach, wo gerade die Ebbe
angefangen hat. Da zeigt unser Thermometer in hüfthohem Wasser 13 Grad. Wir
waten kräftigen Schritts durchs Wasser, damit Füsse und Beine nicht
abfrieren. Die Wellen nässen uns bis Brusthöhe ein, und dann findet
Stephan, jetzt müssten wir doch noch eine Runde schwimmen. Das Wasser ist
wirklich kalt. Wenn man drin ist, wird es nicht wärmer, aber erstaunlich
erträglich. Wir schwimmen immer ein bisschen, halten wieder Schultern und
Arme an die Sonne (wie Kormorane beim Gefiedertrocknen), lassen uns von der
nächsten feinen Welle (Dünung) halb überspülen und schwimmen ein Stück
durchs kristallklare Wasser und durch grosse Schwärme kleiner Fische
weiter. Auf diese Weise schwimmen wir erstaunlich lang, fast so lang wie
sonst, und kommen wie kalte Frösche an Land, stochern noch ein bisschen
nach Sand Dollars, rennen durch den glühend heissen Sand auf den Holzsteg
zum letzten Spaziergang dieses Jahres durch die Salzmarsch und zum Auto zurück.
Letztes Update: 27.12.2005