Reise nach Tilsit, Juli 2005

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Tilsit suchen in Sowjetsk

Mitte Juni 2005 äußerte meine Mutter den Wunsch, nach Tilsit zu reisen, der Stadt, die sie nach dem schwersten russischen Bombenangriff des Jahres 1944, im Alter von 20 Jahren, verlassen hatte und die wieder zu sehen sie während Jahrzehnten nicht erwarten konnte. Als meine Großmutter 1988 starb, gab es noch keine Anzeichen dafür, dass wenige Jahre später das militärische russische Sperrgebiet für Leute von außerhalb des Kaliningrader Gebiets, nicht nur für Touristen aus dem Westen, zugänglich würde.

Dass man nicht mehr viel von der preußischen Vergangenheit vorfinden würde und dass die größten Zerstörungen in den Jahrzehnten nach dem Krieg stattgefunden hatten, war uns schon lange bekannt. Das Kaliningrader Gebiet mit seinen eisfreien Ostseehäfen war nach dem Krieg militärisch wichtig; die militärische Bedeutung des Rayons verschwand allerdings mit Perestroika und Glasnost, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Verkleinerung der GUS beispielsweise um die heutigen EU-Staaten Litauen, Lettland und Estland. Die Militärs sind größtenteils gegangen, geblieben sind die unzähligen Kasernen.

Wir haben trotz allem versucht, die Stationen des Tilsiter Lebens meiner Mutter aufzuspüren. Meistens, aber nicht immer, fanden wir die Koordinaten der Orte, die in ihrer Biografie eine Rolle spielten. Von den Gebäuden, in denen sich Szenen ihrer ersten zwanzig Lebensjahre abspielten, steht aber fast keines mehr. Die ehemals ostpreußische Stadt voller Musik und Eleganz, wie meine Mutter es ausdrückt, ist jetzt eine russische Stadt und alles andere als elegant. Zuvor war sie eine sowjetische Stadt. Preußen und die Sowjetunion haben Architektur, Militäreinrichtungen und Denkmäler hinterlassen. Russland hat begonnen, sich architektonisch ins Bild zu setzen, aber allzu oft bleibt es beim Beginn, das heißt bei einer Bauruine.

Es sind 61 Jahre vergangen, seit meine Mutter nicht mehr in ihrer Stadt war. In dieser langen Zeitspanne hat sich vieles verändert, nicht nur in diesem Teil der Welt.

 

Hin ist es anders als zurück

Unsere Reise nach Tilsit treten wir, anders als Sudermanns Protagonisten Indre und Ansas[1], auf dem Landweg von Westen an. Es ist auch nicht eine Reise nach Tilsit in Ostpreußen, sondern nach Sowjetsk im Kaliningrader Gebiet . Meine erste Reise ist dies in diese Richtung und mit diesem Ziel, zuerst durch Deutschlands Osten, am Rande von Pommern entlang, hinein in den polnischen Teil des ehemaligen Ostpreußens und zwischen Braunsberg (Braniewo) und Heiligenbeil (Mamanowo) über die polnisch-russische Grenze, weiter nach Königsberg (Kaliningrad), Labiau (Polessk), Kreuzingen (Bolschakowo) und Tilsit.

Deutschlands Osten ist, zumindest von der Autobahn aus, vom Westen nicht zu unterscheiden, die Plattenbauten in Frankfurt an der Oder schauen allerdings schon etwas grauer aus als jene renovierten Exemplare, die wir zuvor in Berlin-Schönefeld sahen. Auch die polnischen Städte und Dörfer wirken grauer als jene, die wir in Brandenburg durchquerten. Die polnischen Häuser sind verziert, die Fenster mit Blumen geschmückt, fast jeder Vorgarten ein Blumenbeet. Die Menschen kleiden sich modisch, so globalisiert ist dies, dass vom Outfit her geografische Zuordnung unmöglich ist. Ungewohnt ist hingegen der Anblick von Unfallautos, die zum Verkauf angeboten werden, und von Höfen voller Autoteile – Stapeln von Autotüren, Kotflügeln, Fahrzeugdächern. Mir fällt die Bemerkung eines deutschen Journalisten ein, zwei Monate zuvor, dass in Polen geklaute Autos in 15 Minuten zu Ersatzteilen verarbeitet sind.

Die architektonischen Hinterlassenschaften Preußens erscheinen im fahlen Licht des ersten Abends und des folgenden Morgens auch grau und abgeschabt, abgeblättert wie Venedig, denke ich. Ganz anders als die gotischen Baudenkmäler aus Ordenszeit, deren ehemals kriegsversehrte, aber wunderbar restaurierte rote Gemäuer tagsüber in der Sonne leuchten. Die Gotik ist im polnischen Ostpreußen ubiquitär, in Backstein gemauerte Landesgeschichte.

1226 rief der Piastenherzog Konrad von Massovien den Papst um Hilfe gegen die heidnischen Pruzzen. Der Papst im fernen Rom wandte sich an den Deutschen Orden, der zu jener Zeit noch in Jerusalem den Dritten Kreuzzug führte. Wie nun der Islam in Palästina gegen­über dem Christentum trotz Anwesenheit der kriegerischen Ordensmänner an Stärke gewann (und im Gründungsjahr der Eidgenossenschaft schließlich siegte), kam dies den Rittern gelegen. Strategisch vorwärts blickend gelobte der Orden dem Papst nicht nur Eroberung und Heidenbekehrung, sondern auch die Verwaltung des Pruzzenlandes. So baute der Deutsche Orden in Ostpreußen sein Herrschaftsgebiet samt 400 Befestigungsanlagen auf und aus. „Bei der Verleihung von Grund und Boden behielt der Orden sich immer das Obereigentum vor, dem Lehnsträger stand nur das Nutzungsrecht zu. Für je 40 Hufen (ca. 700 Hektar) musste der Ritter einen schweren Ritterdienst leisten“ – das ist: „vollgepanzert mit schweren Waffen und einem bedeckten, der Rüstung angemessenen Roß, begleitet von zwei anderen Reitern“. „Oft waren es riesige Ländereien, die in der allerersten Zeit des Ordens auf diese Weise verliehen wurden…“.[2] Marienburg (Malbork), der Sitz des Hochmeisters bis 1457 als der bröckelnde Ordensstaat die Burg verkaufte und den Hochmeistersitz nach Königsberg verlegte, war die größte Ordensburg. Sie wurde, als SS-Hauptquartier gehalten „bis zum letzten Mann“, im Krieg besonders heftig bombardiert.

Doch weiter in der Reise, wir sind ja noch gar nicht angekommen: Russland. Schon auf polnischer Seite führen die letzten Kilometer durch farblose Weiler, nach der Grenze ist es wenig anders. Oder doch: wenn sich in Polen Getreidefelder links und rechts der Strasse bis zum weit entfernten Horizont erstrecken, sind es in Russland Wiesen, auf denen frei lebende Kühe – „Milchelche“ – weiden und wiederkäuen, wenn sie nicht auf der Strasse stehen oder vor Ort gemolken werden. Von der einstigen Kornkammer Preußens ist noch viel da in Polen; im Kaliningrader Gebiet ist ehemaliges Getreideanbauland hingegen weit gehend versumpft.

In Königsberg, wo die meisten Mitreisenden den Bus verlassen, erhalten wir eine kleine Stadtrundfahrt. Die Stadt ist herausgeputzt für „750 Jahre Kaliningrad“. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass man ein Jubiläum feiert, das es so gar nicht geben kann – Königsberg wurde 1255 gegründet; Kaliningrad hat man im sowjetischen Nachkriegsfeldzug zur Austilgung alles Deutschen ab 1945 über die alte Stadtstruktur hinweg gebaut. Im Jahre 2001 wurde der 300. Jahrestag der Krönung Friedrichs I zum König in Preußen, weiteres bedeutsames Datum im Zusammenhang mit der Stadtgeschichte, nicht zelebriert.

Die Stadt finde ich schrecklicher zugerichtet als aufgrund der vielen Fernsehbeiträge zum 60. Jahrestag des Kriegsendes erwartet. Meine Mutter schaut kopfschüttelnd aus dem Fenster. Unsere Variation der Hofstadter’schen Gesetze: (1) Es ist immer schlimmer als man erwartet; (2) selbst wenn man Schlimmeres erwartet, ist es noch schlimmer… Wenn das hier der Vorgeschmack auf unser Reiseziel ist, die Stadt Sowjetsk?

Meine Mutter schaut in die vertrauten Alleen und riesigen Wälder und kopfschüttelnd in die Wiesenweite. Die schiere Endlosigkeit des leicht hügeligen Landes bis zum Horizont, die Gleichförmigkeit, das entspricht ihrer Erinnerung. „Und jedes Mal, wenn ich die Alleen wiedersah, die einsamen Seen und stillen Wälder, meinte ich nach Hause zu kommen. Landschaft ist eben wichtiger und gewiß prägender als alles Andere. Sie gehört im letzten und höheren Sinne ohnehin niemandem, allenfalls vielleicht dem, der imstande ist zu lieben ohne zu besitzen.“[3] Mein Großvater habe in seiner Zeit nach dem Krieg in Niedersachsen das Weser Bergland geliebt, sagt meine Mutter immer wieder während unsere Reise, die Weite der hügeligen Landschaft, die Getreidefelder, die der ostpreußischen so ähnlichen Mentalität der Leute und weil es dort viele Menschen hin verschlagen hatte, die ihn von Tilsit kannten, für die er ein Mensch von Bedeutung war. Baden-Württemberg, wohin die Familie wenige Jahre nach dem Krieg schließlich zog, blieb ihm fremd, und mein Großvater blieb dort ein Fremder. Zeit seines Lebens verbrachten er und meine Großmutter die Sommerferien in Niedersachsen, das, wie ich auf dieser Reise zum ersten Mal höre, ostpreußischer ist als das heutige Kaliningrader Gebiet. Und dann erreichen wir Sowjetsk, auf den ersten Blick die klare Steigerung des Schrecklichen verglichen mit Kaliningrad.

Von Sowjetsk/Tilsit will ich weiter unten erzählen. Was ich an dieser Stelle sagen möchte: Man gewöhnt sich erstaunlich schnell an das, was ist. Die Erwartung und ihre Zwillings­schwester, die Enttäuschung, verlieren kontinuierlich an Macht. „Werden leben, werden sehen“, sagten meine ostpreußischen Verwandten. Erlebtes und Gesehenes beeinflussen das zu Erlebende und wie das zu Sehende in der Erinnerung verankert werden wird. So krass wie auf dieser Reise habe ich das zuvor nicht erlebt. Die Stadt wird mit der Zeit nicht attraktiver. Sie wird einfach das, was sie ist, eine Unbekannte, die ich kennen zu lernen versuche, angesichts der kurzen Zeit von vier Tagen ein einseitiger unbeholfener Annäherungsversuch.

Hat sich die Reise gelohnt? Ja, weil die Geschichten, die meine Mutter mir mein Leben lang erzählte, jetzt zuzuordnen sind, auch wenn die von ihr erinnerten Schauplätze heute nur noch ein Stück Wiese oder die Grundmauern einer Ruine sind. Ich habe schon viele Jahre nicht richtig hingehört, wenn meine Mutter etwas zum hunderttausendsten Mal erzählte, so dass ich ihre Geschichten nicht einmal nacherzählen kann. Jetzt wäre ich froh, wäre ich aufmerksamer gewesen. Denn erstaunlicherweise ist Sowjetsk im Jahre 2005 eine gute Projektionsfläche für Erinnerungen an Tilsit bis 1944. Die Menschen lassen uns gewähren. Man stapft durch ihre Gärten und Hinterhöfe, kommentiert ihre Wohnhäuser mit ausholenden Armbewegungen zur Verdeutlichung der früheren Situation, steckt den Kopf in ihre Hauseingänge und fotografiert Straßen, Parks, Straßenhunde, Parkkatzen, Märkte, Denkmäler, Vorkriegs- und Nachkriegsarchitektur. Seit 1992, seit das Kaliningrader Gebiet geöffnet wurde, ist das so.

Das Kaliningrad/Königsberg der Rückreise sehe ich anders als das Kaliningrad der Hinreise. Alle Aufmerksamkeit gilt nun den renovierten Gebäuden, dem rekonstruierten Dom, den Parkanlagen und neu geteerten Strassen. Das Sowjetische und das Russische der Zeit nach 1991 sind, wie in den Tagen zuvor in Sowjetsk, nicht schön nach meinem Empfinden, aber überraschungslos, und das ist eine außerordentliche Erleichterung. Das preußische Polen der Rückreise ist nicht das preußische Polen der Hinreise – wie viel da noch existiert und wie prachtvoll die alten Bauten sind, renoviert oder auch nicht. Auch das post 1945-Polen der Rückreise ist architektonisch ansprechender als das neuere Polen der Hinreise. Wie ich jetzt die polnischen Städte sehe, so muss Ephraim Kishon vor Jahrzehnten die Zürcher Bahnhofstrasse erschienen sein. Prächtige Parks und Blumenbeete in den Städten, kein Papierchen auf den grünen Grünstreifen zwischen Fahrbahnen und Gehwegen und auch nicht alle 100 Meter eine „wilde Mülldeponie“, wie überall im Kaliningrader Gebiet durch Stehen- und Fallenlassen alles Ungebrauchten. Das geputzte Polen, die kunstvoll restaurierte gotische Basilika von Frauenburg und wiederum die unendlichen Getreidefelder Pommerns. Zurück ist es anders als hin.

Aber wir schreiben erst einmal den 20. Juli, haben dreizehneinhalb Stunden Reisezeit des ersten und zehn Stunden des zweiten Reisetages hinter uns und sind bei Regen am steinernen Denkmal mit dem Ortsnamen „Sowjetsk“ in großen steinernen Lettern vorbeigefahren, ein Stadtrand irgendwo im Weideland, ein paar hundert Meter später noch einmal der Ortsname, diesmal klein auf der schwarzgeränderten weißen Ortstafel, am Gleis der Eisenbahnlinie Richtung Kreuzingen bzw. Insterburg (Tschernjachowsk). Meine Mutter fragt: „Sind wir denn schon in Tilsit?“ Ob wir in Tilsit sind, wie können wir das wissen? Ich habe das alte Tilsit nie gesehen, und meine Mutter war das letzte Mal vor 61 Jahren hier. Auf alle Fälle sind wir in Sowjetsk, der Grenzstadt im Kaliningrader Gebiet zum EU-Staat Litauen, die ebenfalls ein erstaunliches Jubiläum feiert, nämlich „UdSSR 1945-2005“.

 

20. Juli 2005

Das Ortsschild „Sowjetsk“ haben wir nun hinter uns gelassen auf der Königsberger Straße[4], fahren vorbei am Neubau einer russisch-orthodoxen Kirche und dem Eingang zu Jakobsruh, durch die Clausiusstraße mit einem postsowjetischen Bauskelett und vielen weniger vom Krieg als vom Zahn der Zeit benagten Jugendstilbauten. Links, eingangs Lindenstraße, die renovierte Francksche Villa, heute ein Waisenhaus, und gegenüber die teilweise in ein Fabrikgebäude sowjetischen Ursprungs einverleibte Ruine der Kreuzkirche, in der meine Mutter konfirmiert wurde. Ein paar Meter weiter beginnt die Hohe Straße, die heute Siegesstraße heißt. Noch ein paar Schritte geradeaus käme man zum Anger, wo mein Großvater eine Zeitlang wohnte. Wir rumpeln hingegen rechts weg über die Vorkriegspflasterung der ehemaligen Fabrikstraße dem Hotel „Tilsiter Hof“ entgegen. Gegenüber dem Hotel die Polizeidirektion, eines der ganz wenigen noch existierenden Vorkriegsgebäude, das seine Funktion nach dem Krieg beibehielt. Ringsum hohe ausladende Pappeln, in denen sich die Krähen abends versammeln – „die Vögel Osttpreußens“, wie meine Mutter zum vielhundertfachen Gekreisch in den Baumkronen bemerkt.

Zimmerbezug. Mein Zimmer ist rosa, sauber, kleiner Vorraum, großes Fenster. Die Duschinstallation aus feinen verschlungenen Röhren fotografiere ich; vom hauchdünnen Duschvorhang bleibt nur eine unvermittelbare haptische Erinnerung. Einzelzimmer haben einen Fernseher, Doppelzimmer wie das hübsche grüne Zimmer meiner Mutter mit Aussicht auf alte Bäume und das ehemalige Krankenhaus haben (noch) keinen. Irina, die wunderbar Deutsch sprechende Wirtin, renoviert und verbessert den Komfort der Hotelzimmer so gut die Mittel reichen. Von meinem Zimmerfenster aus schaue ich auf die Hofseite eines Sowjet-Plattenbaus. An dieser Stelle stand die Cäcilien-Schule, in die meine Mutter ging. Auf dem Hof schlabbert eine hübsche schwarz-weiße Katze in ihrem Spiegelbild das Wasser einer Riesenpfütze.

Den ersten Spaziergang in die Stadt unternehme ich mit Tatjana, unserer zweiten Reiseführerin. Meine Mutter meint, sie kenne sich hier aus und zieht alleine los. Eine Stunde später begegnen wir ihr in der ehemaligen Wasserstraße. „Ein Geschenk des Himmels“, sagt sie, weil ihr die Orientierung fehlt. Sowjetsk hat weit gehend die Straßenführung von Tilsit, ganz im Gegensatz zu Kaliningrad/Königsberg. Wir wandern nun zu zweit zum Memelufer unterhalb der Königin-Luise-Brücke – seit dem Wiederaufbau ohne Bögen die ihrer architektonischen Majestät beraubte Verbindung nach Litauen. Am Fluss wird gefischt, keine besonders appetitliche Sache, gibt es doch im ganzen Kaliningrader Gebiet keine einzige Kläranlage. Meine Mutter zeigt mir, wo sie als Kinder auf der litauischen Seite badeten. Die Eisenbahnbrücke habe ein naher Verwandter meines Großvaters gebaut. Mit ihren 500 Metern Länge über Strom und Schwemmland war sie die längste Eisenbahnbrücke ihrer Zeit. Diese hier, die wir sehen, ist allerdings ein Neubau, weil die deutsche Wehrmacht im Oktober 1944 die Brücken zerstörte, um den Vormarsch der russischen Truppen zu verhindern. Die Deutsche Kirche, die bei der Königin-Luise-Brücke stand, wurde Jahrzehnte nach dem Krieg gesprengt. Jetzt ist das alles ein öder Platz, seit Litauens Eintritt in die EU durch Container der russischen Grenzposten noch mehr verschandelt als zuvor bereits durch drei zwölfstöckige Hochhäuser, sowjetische Plattenbauten wider die deutsche Stadtstruktur. Am Flussufer stehen zwei Löschkräne; in den 1990er-Jahren waren noch erheblich mehr im Einsatz. Ein paar Schritte davon entfernt trifft man in Flussnähe auf sehr alte Lagerhäuser an der ungeteerten, ungepflasterten ehemaligen Packhofstraße. In zahlreichen Pfützen und Pfützchen spiegeln sich Fachwerk-Fassadenfragmente.

Wir wandern Richtung Hohe Strasse. Am Schenkendorfplatz, Ecke Deutsche Strasse, wo bis 1944 die Familie meines Großvaters residierte und die 40 Kaninchen meiner Mutter den Hinterhof bevölkerten, ist nichts mehr da. Auch an der Deutschen Strasse nicht, der letzten Tilsiter Wohnstätte meiner Mutter. Kurz vor dem 20. April, sagt meine Mutter, warfen die Russen Flugblätter über der Stadt ab mit der Ankündigung, man werde den Tilsitern zu Führers Geburtstag ein schönes Feuerwerk bescheren. Meine Mutter meinte, das sei 1944 gewesen, aber Frau P. von unserem Tisch ist sicher: Das war 1943.

Architektonisch gesehen ist die gesamte Tilsiter Zeit meiner Mutter nahezu vollständig beseitigt – vom Krieg übrigens weit weniger als in den Jahrzehnten danach während der Sowjetherrschaft. An der Hohen Straße, wo meine Mutter mit ihrem Lieblingskaninchen, dem großen Belgischen Widder Mucki, spazierte, entdecken wir immerhin das Wohnhaus der Justizräte Gerlach, naher Verwandter meines Großvaters. Der ganze Gebäudekomplex ist noch vorhanden. Die Hohe Straße ist eine Fußgängerzone, wie früher die Einkaufsstraße der Stadt, aber nicht elegant. Von den berühmten Tilsiter Cafés ist keines erhalten (aber es gibt ein neues russisches mit dem Angebot von Nescafé und zweimal täglich frischen köstlichen Kuchen). Da ist der Plattenbau des Kaufhauses Sadko (mit einer sehr appetitlichen Lebensmittelabteilung und einem breiten Wodka-Angebot), einen Plattenbau für Offiziersveteranen, einige prachtvolle alte renovierte Hausfassaden, die Post (die auch vor dem Krieg die Post war) und am Ende der Hohen Strasse, das der Anfang der heutigen Siegesstraße ist, die Leninstatue.

Hierzu ein kleiner Exkurs: Zwischen Russland bzw. Weißrussland und dem Kaliningrader Gebiet gibt es zwei markante Unterschiede: Im Kaliningrader Gebiet hat jede Stadt ihren Lenin, außerhalb des Rayons wurde er längstens vom Sockel geholt. Im Kaliningrader Gebiet sieht man einen hohen Anteil westlicher Autos, außerhalb davon herrscht immer noch die Marke Lada vor.

Was denkt sich meine Mutter zu alledem, was sie hier sieht? Bereuen tut sie das Herkommen nicht, sagt sie, aber sie habe die Erde gesucht und sei auf dem Mond gelandet, diese Welt, die sie hier vorfinde, stimme in keinem Punkt mit der Welt aus ihrer Erinnerung überein. Den Schenkendorfplatz vorhin, wo Klara Gronwald geb. Mack, die Mutter meines Großvaters Erich Gronwald wohnte, hatte sie beispielsweise viel großräumiger in Erinnerung. Ich denke für mich: Was mache ich hier bloß mit zwei Tagen zur freien Verfügung in dieser hässlichen Stadt?

Zurück im Hotel, schaue ich in den Hinterhof hinaus. Unter meinem Fenster steht ein silbriger Audi. Vier Männer darin spielen Karten und stellen die leeren Bierflaschen außen auf dem Hof neben dem Auto ab. Einige Menschen rauchen gegenüber auf ihren Balkonen. Überhaupt wird hier sehr viel geraucht. Die Nacht bricht herein. Mein Zimmernachbar, Herr K., hört fern. Bis weit nach Mitternacht versucht Herr K. den russischen Schiedsrichtern klar zu machen, dass man so einfach nicht pfeift. Aber die Herren auf dem Spielfeld sind für den echauffierten Herrn K. nicht auf Empfang. Und ich hab’ die Ohropax nicht eingepackt!

 

21. Juli 2005

Ich wache hundemüde auf vom Rumpeln der Lastwagen auf dem Kopfsteinpflaster der Fabrikstraße, mein Spiegelbild im Neonlicht des Bades ist unerfreulich. Zum Frühstück gibt es Grascheln, eine ostpreußische Mehlspeise aus Quarkteig (Glumse) mit Sauerrahm (Schmant). Meine Mutter ist fitter als ich. Ich brauche noch ein Weilchen und treffe Tatjana rauchend in der Hotel-Lobby an.

Zuerst gehen wir in das Café an der Hohen Straße, danach ins Heimatmuseum. Dort darf ich ein Einwohnerregister nach vielen Ordnungskriterien aus dem Jahre 1936 studieren. In jenem Jahr starb mein Urgroßvater Karl Schmerberg. Sein Name steht schon nicht mehr in diesem Buch. Ich suche: die Schmerbergs, Gronwalds, Macks, Gerlachs, Hosses, all die Namen, die ich in meinen Kindertagen hörte. Fotografiere die alten Fotos von der Eisenbahnbrücke, dem Wohnhaus mit dem barocken Giebel von Mack Erben am Schenkendorfplatz mit dem alten Rathaus im Hintergrund, dem Gerlach-Haus an der Hohen Straße 13 und dem Justizpalast, wo Generationen der Gerlachs Justizräte waren, den Stadtplan, das Schnupftabakgefäß in der Vitrine, eine Tasse mit Aufschrift „Kurt“ (so hieß der im Krieg gefallene Sohn meines Großvaters), die Installation aus Gegenständen eines Haushalts, russischen und deutschen. Mit so wenig Habe, wie die flüchtenden Menschen aus der zerstörten Stadt mitnahmen, kamen neue Menschen von überall aus der Sowjetunion, von Stalin per Ukas beordert oder durch unhaltbare Versprechungen gelockt. Sowjetsk (und all die anderen Städte und Dörfer) als osteuropäische melting pots? Nicht wirklich, denn so einheitlich, wie die russische Sprache im ganzen Riesenreich gesprochen wird, so ähnlich war, wie man mir versichert, die sowjetische Lebensart.

Tatjana verabschiedet sich nach dem Museumsbesuch, ich treffe kurze Zeit später meine Mutter in der ehemaligen Kasernenstraße an. Sie ist unterwegs nach Stollbeck und Splitter auf der Suche nach der Schnupftabakfabrik, die meinem Großvater gehörte. Das ist ein sehr weiter Weg, vorbei an unzähligen Kasernen und an Wiesen, wo früher ein Haus neben dem anderen stand und jetzt höchstens Überreste von Gebäudefundamenten erkennbar sind. Der Splitterer Mühlenteich ist grün überwuchert. Wo die Fabrik gestanden hatte, kann meine Mutter nicht erkennen. Jedenfalls existiert davon nichts mehr.

Unter schwarz aufziehenden Wolken treten wir den langen Rückweg an. Kurz darauf erwischt uns ein gewaltiger Regenschauer. Aber solche Regen dauern nicht lange. Wir wandern zum Anger, wo statt des Tilsiter Elchs ein russisches Kriegsdenkmal mit Panzer steht. Der Elch ist im Kaliningrader Zoo, ohne Schaufeln allerdings. Auf dem Boden stehend, nicht auf einem Sockel, krochen ihm die Leute für Erinnerungsfotos so lange auf den Kopf, bis die Schaufeln runterfielen. Reparaturmaßnahmen haben nichts genützt, der Tilsiter Bronzeelch im Kaliningrader Zoo schaut nun wie eine androgyne Elchkuh aus. Der Anger ist immer noch ein Park. Früher habe man das ganze große Feld im Winter überflutet fürs Eislaufen, sagt meine Mutter, dazu hätten sehr gute Kapellen Musik gespielt. Das Haus Angerpromenade Nr. 1, in dem mein Großvater einige Jahre wohnte, gibt’s möglicherweise auch nicht mehr. Die Gebäude, die wir sehen, sind meiner Mutter völlig fremd.

Um ein wenig auszuruhen, suchen wir das Café mit den zweimal täglich frischen Kuchen auf. Unsere Tischnachbarn vom Tilsiter Hof sind auch da. Nach kurzer Pause gehen wir zur Fabrikstraße, wo mir meine Mutter den Jugendstilbau der Freimaurerloge zeigen will, in deren Fenster man bei Mondlicht zwei Teufel sah. Am Ende der Fabrikstraße sieht man die Backsteinruine der Turnhalle, links davon, bereits an der Rosenstraße ein Stück Wiese und ein Sowjetbau. „Über diesen Zaun ist das Ömchen gesprungen, da kam kein Junge nach“, sagt meine Mutter über die hölzerne Ruinenumfriedung. Das Ömchen, das ist meine Großmutter, die ein ziemlich wildes Kind war; der Zaun, vor dem wir stehen, ist aber ganz bestimmt nicht „aus Friedenszeit“. Im Haus an der Rosenstraße, wo jetzt die kleine Wiese ist, wurde meine Mutter geboren. Verschiedene Generationen der Familie Schmerberg lebten bis 1936, als Karl Schmerberg starb, hier als Mieter des Schrotthändlers S. Der besaß zwei Häuser, das eine zur Rosenstraße, das andere parallel dazu an der Schulstraße. Beide Straßen gibt es, natürlich unter anderen Namen, mit den ursprünglichen Kopfsteinpflastern immer noch. Ganz in der Nähe stehen die unsäglichen drei Hochhäuser und einen kleinen Katzensprung weiter hat man bereits die Königin-Luise-Brücke bzw. den ehemaligen Schlossplatz erreicht.

Hofseitig waren beide Häuser von Blumenbeeten gesäumt, der freie Raum dazwischen war Hinterhof. Dann mauerte der alte S. die Fassade des Hauses zur Schulstraße zu, um davor seinen Schrott zu lagern, zerteilte die großen Wohnungen des zum Hinterhaus erklärten Gebäudes in enge kleine Behausungen und teerte die Blumenbeete zu. Dass er die kleinen Goyims beschimpfte und mit dem Stock nach ihnen schlug, zahlten die ihm heim, indem sie ihre Schweineschmalzbrote mit seinen Kindern teilten. In S’s Hinterhof lebte ein Junge; der spuckte den Anderen ins Essen, wenn er es haben wollte, und er brachte ihnen Wörter bei, über deren Gebrauch die Erwachsenen sich wenig erfreut zeigten. Es war eine sozial, national, kulturell durchmischte Gesellschaft, die hier zusammen lebte, gut situierte und ärmere Menschen, junge und alte Leute, Juden und Christen, Litauer und Deutsche. Um die Ecke, zur Fabrikstraße hin, steht noch das Wohnhaus, das der amerikanische Besitzer meinem Urgroßvater verkaufen wollte und das Karl Schmerberg, nach dem Tod der beiden Söhne im Ersten Weltkrieg, nicht mehr interessierte.

Wir durchqueren das Gelände von der Rosen- zur Schulstraße und gehen Richtung Herzog-Albrecht-Schule. Das Schulgebäude ist immer noch in Betrieb. Der Name erinnert an den letzten Hochmeister des Deutschen Ordens aus der fränkischen Linie der Hohenzollern, der 1525 vom katholischen Kreuzritter zum lutheranischen Herzog mutierte. Zum Hotel zurück gehen wir den Schlossmühlenteich entlang. Das Gelände ist teilweise ziemlich verwildert, und alle paar Meter erhebt sich eine „wilde“ Mülldeponie.

 

22. Juli 2005

Larissa ist unsere Reiseführerin an die Kurische Nehrung (Kurschskaja Kosa). Ihr Wissen scheint unbeschränkt. Ohne Unterlass macht sie uns auf in Kürze auftauchende Dörfer, Gebäude, Denkmäler, Hinweisschilder aufmerksam, in dieser besonderen Zweisprachigkeit mit alten deutschen und aktuellen russischen Namen. Larissa (wie auch ihre Kollegen) hat die Landkarte in zwei Sprachen im Kopf und mehr als das, gibt es doch nicht für alles ehemalige Deutsche eine russische Entsprechung und umgekehrt. Zwischen den geografischen Informationen erzählt sie uns über das Land und das Leben seit dem Krieg bis heute.

Warum die einstige Kornkammer Preußens hier allenfalls noch Weideland ist, erklärt uns Larissa: Josef Stalin beabsichtigte, per Dekret und mit unhaltbaren Versprechungen Leute aus der ganzen Sowjetunion nach Ostpreußen zu holen. Wenige kamen, die wenigsten davon Bauern. Keiner wusste das Land auf und unter dem Meeresspiegel zu bewirtschaften. Die Pflugscharen der russischen Siedler rissen die Erde auf einen halben Meter Tiefe auf und somit die 40 cm tief verlegten Drainageröhren. Die Röhrenteile, die sie auf ihre Felder hoben, warfen sie in Brunnenschächte. Ohne die vor rund 200 Jahren von niederländischen Spezialisten in Ostpreußen eingeführten Drainagesysteme versumpfte das Land. Für den Ackerbau ist es heute unbrauchbar. Auch Weidezäune, mittels derer die ostpreußischen Bauern für abwechselnde Nutzung der Weideflächen sorgten, waren für die russischen Siedler nutzlos. Zäune kannten sie nur in militärischem Zusammenhang, deshalb rissen sie alle Weidezäune ab. Seitdem läuft das Vieh frei auf riesigen Flächen herum. Gelegentlich begegnen auch wir einer Kuh- oder Schafsherde, die wiederkäuend auf einer Überlandstraße liegt.

Viele Straßen im Kaliningrader Gebiet sind schnurgerade Alleen mit altem Baumbestand. Die Tage der Alleen sind allerdings gezählt. Sie seien für die Autofahrer gefährlich, sagt Larissa, über Alkohol am Steuer und schlechtes Fahrverhalten sagt sie nichts. Die Regierung des Kaliningrader Gebiets hat also beschlossen, dass die Duelle der Autofahrer mit der Landschaft in Zukunft in der Wiese statt am Baumstamm enden. Meine Mutter schaut angespannt aus dem Frontfenster des Busses in die viele Kilometer langen Baumreihen. 1944, auf der Flucht, sah sie eine Allee und an jedem Baum einen gehängten jungen Mann. Wofür sie mit dem Leben bezahlten, stand auf Schildern an der Brust der Toten. Immer wieder erzählt sie von ihrer Fahrt durch jene Allee auf einem Armeelastwagen der deutschen Wehrmacht, den sie für sich, ihre Mutter und ihre Großmutter angehalten hatte, und dass die deutschen Soldaten sagten: Wenn sie (d.h. eine Wehrmachtspatrouille) uns mit euch auf dem Lastwagen erwischen, dann hängen wir auch. Ich sage, dass wir uns auf unserer Reise vermutlich weit östlich jener Allee bewegen. Da sagt sie, man habe ihr erzählt, nach dem Krieg seien die Bäume gefällt und zu Brennholz verarbeitet worden, sie sei froh, dass es die Allee nicht mehr gibt.

Über das russisches Schulsystem berichtet Larissa, denn wir kommen wiederholt an Stellen vorbei, an denen früher eine Schule stand, oder an Schulgebäuden aus preußischer Zeit, die jetzt zerfallen sind oder die andere Zwecke erfüllen. Der Niedergang der alten Dorfgemeinschaften setzte vielfach nach dem Krieg ein, als die in Ostpreußen verbliebenen Deutschen nach Westen vertrieben oder in russische Zwangslager deportiert wurden. Bis 1948 dauerte das an. Russische Siedler bauten sich häufig neue Häuser, weshalb viele der alten Bauten zerfielen. Von manchen Gebäuden – Häusern oder Kirchen – waren vor einem Jahr noch die Grundmauern vorhanden, sagt Larissa.

Störche und Graureiher bevölkern die weiten Wiesen, Storchennester gibt es auf fast jedem Dach mit bis zu vier oder fünf Störchen drin. Die Jungen sind nun so groß, dass nicht mehr die ganze Familie ins Nest passt. Der Storchenmann kommt im Frühling Wochen vor seiner Partnerin (Störche sind grundsätzlich monogam) aus dem Winterquartier zurück und baut das Nest vom Vorjahr aus, manchmal zu mehreren Tonnen schweren Holzzylindern von drei oder vier „Stockwerken“. Viele Storchennester im Kaliningrader Gebiet sind mehrstöckig.

Von Tilsit aus führt die Reise an die Kurische Nehrung zunächst über Kreuzingen nach Labiau. In Labiau wohnten 1944 entfernte Verwandte meiner Mutter. „Unser großes Glück war, dass unsere gesamte Familie vollkommen ausgebombt war, dass niemand uns in Tilsit und Umgebung mehr aufnehmen konnte“, sagt meine Mutter, „weil wir dann die Stadt verlassen und zu den Verwandten nach Labiau gehen durften“. Wie es zu diesem befremdlichen Glück des kompletten Verlusts von Hab’ und Gut und Heimat kommen konnte, daran erinnern sich alle unsere älteren Mitreisenden. Marion Dönnhoff beschreibt, wie Generalstabschef Guderian seit der ersten großen russischen Offensive Juli 1944 darum bat, die 30 Kurland-Divisionen zurücknehmen und mittels Frontbegradigung wenigstens die Zivilbevölkerung aus den gefährdeten Gebieten evakuieren zu dürfen, solange die Front noch hielt, „aber Hitler hing weiter seinen Illusionen über neue Offensiven nach und geißelte als Defaitismus alle Maßnahmen, die der wirklichen Lage Rechnung getragen hätten. […] So kam es denn, dass Illusionen […] zum Anlaß wurden, jegliche Evakuierung der Zivilbevölkerung zu verbieten – weder Kinder noch Gepäck durften weggeschickt werden. Und so kam es, dass jene chaotische Situation heraufbeschworen wurde […]: Das Zurückströmen einer geschlagenen Armee, die planlose Flucht der Zivilbevölkerung und das Hereinbrechen eines zu äußerster – vergeltender – Grausamkeit entschlossenen Feindes.“[5]

Über die nördliche Umfahrung von Königsberg fahren wir geradewegs durch den Forst Fritzen Richtung Cranz (Zelenogradsk), dem ehemals berühmtesten ostpreußischen Ostseebad, das heute allerdings gegenüber Rauschen (Swetlogorsk) an Attraktivität verloren hat. Die Kurische Nehrung ist ein Naturschutzgebiet, halb russisch, halb litauisch, insgesamt 100 Kilometer lang und an der schmalsten Stelle knapp 400 Meter breit, ein Landstreifen aus Wald, Sand und Sumpf mit über 60 Meter hohen Dünen. Trotz Verbindung mit der Ostsee im Norden der Nehrung ist das Kurische Haff (Kurschski Saliw) ein riesiges Süßwasserreservoir.

Im Wald bei Pillkoppen (Morskoje), nahe der litauischen Grenze, ist ein Picknick angesagt. Wir haben uns verspätet, die Königsberger Gruppe ist schon fast eine Stunde da. Es regnet bei unserer Ankunft, aber wir haben Wetterglück und geniessen Köstliches der russisch-ostpreußischen Küche, von Marina gekocht und gebacken und mit Unterstützung ihres Ehemanns Juri und weiterer Helfer an die große Reisegruppe verteilt: Gemüsesuppe mit Schmant, Klopse, Salat aus roter Beete, saure Gurken, Flinsen (süße Crêpes, die man mit Rosinen-Quark oder Konfitüre füllt), Blaubeerkuchen beispielsweise und natürlich Wodka. Den sollte man bereits bei der Begrüßung nach russischer Manier in einem Zug runterkippen. Die Meisten schaffen das mühelos; ich bleibe bei kleinen Schlückchen. Dass Essen satt macht, ist angesichts des kulinarischen Angebots hier im Wald überaus bedauerlich. Ab und zu kommt ein kurzer Regenguss. Wir werden umschwärmt von Mücken, Bernsteinhändlern und einer Aquarell-Verkäuferin. Wo immer wir noch Halt machen werden auf der Nehrung, erwarten uns dieselben Händler bereits an ihren mobilen Ständen.

Nächste Station ist die 64 Meter hohe Epha-Düne, die man auf Holzstegen erreicht. Als man die Wälder auf der Nehrung für den Schiffbau abholzte, setzten sich gewaltige Sandmassen in Bewegung und begruben alte und danach auch neugegründete Dörfer unter sich. Franz Epha gelang es 1892, mit Sandgräsern und verschiedenen Koniferenarten die Düne zu stabilisieren, bevor sie Pillkoppen begrub. Die Situation ist labil geblieben. Eine Gruppe junger Frauen, nass vom Bad im Haff, rennt aller Verbote ungeachtet durch den Dünensand. Vom Gipfel der Düne sieht man ostwärts ins Haff und westwärts über die Ostsee. Von Fuß der Düne bis zur Ostsee sind es ein paar Meter. Das Wasser ist ungefähr 18 Grad warm. Es ist Hochsaison, aber am Strand ist wenig los. Kaum jemand schwimmt, ein paar Leute wandern der Wasserlinie entlang, den Blick auf der Suche nach Bernstein auf den Boden geheftet. Unsere Tischnachbarn erwerben für 15 Euro einen ganzen Räucheraal. Das üppig mit Omega-3-Fettsäuren ausgestattete Tierchen sättigt sie bis in den nächsten Tag hinein.

Letzte Station auf dem Nehrungsausflug ist die Vogelwarte Rossitten (Rybatschij). Das Dorf erlangte Berühmtheit wegen der Vogelstation des Pfarrers und Biologen Johannes Thienemann, Ferdinand Schulz’ Weltrekord im Segelfliegen 1924 dank Dünen-Thermik und des Spielfilms „Quax, der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann. In der Vogelwarte wandern wir durch haushohe Vogelreusen. Eine Reuse ist von Süden, die andere von Norden offen. So fliegen in beiden Zugrichtungen die Vögel zu Tausenden ein. Alle Stunden werden die Netze geleert, die gefangenen Vögel beringt und vermessen.

 

23. Juli 2005

Im Tilsiter Hof bereitet man sich auf eine Hochzeitsgesellschaft vor, weshalb uns Larissa das russische Heiraten erklärt. Russische Hochzeiten finden freitags oder samstags statt. Das Paar geht zum Standesamt und – immer häufiger – in die Kirche, danach wird der Braut­strauß zu einem Denkmal gebracht (Lenin, Panzer, Divisionen bzw. Opfer des Großen Vaterländischen Kriegs u.ä.). Die Brautsträuße sind recht normierte Blumengebinde. Nach dem Denkmalsbesuch versammelt sich die Hochzeitsgesellschaft auf dem Land zum Umtrunk, wobei reichlich Wodka fließt. Am Nachmittag treffen wir solche Hochzeitsgesellschaften an Gedenkstätten (Divisionen bzw. Opfer des Großen Vaterländischen Krieges) rechts und links der Hauptstraßen an. Die Menschen sind schön gekleidet, es sind auch schöne junge Menschen, die da heiraten. Nach ein paar Stunden fährt man zum Restaurant zur Hochzeitsfeier. Zwei Tage dauert ein Hochzeitsfest für gewöhnlich, es folgen vier Flitterwochen und dann fängt der Alltag an.

Ja, man heiratet jung, die Frauen sind bestrebt, das Heiratsziel allerspätestens im 25. Lebensjahr zu erreichen. Da die Hochzeiter so jung sind, haben sie häufig die Ausbildung noch nicht abgeschlossen und kein Geld für eine Wohnung. Sie wohnen also bei den Eltern der Braut oder des Bräutigams, die sich dann auch um die Enkel kümmern. Natürlich führt dies häufig zu Konflikten, zumal die Wohnverhältnisse für drei Generationen beengend sind.

Der nüchterne Alltag steht denjenigen, auf die sich der Tilsiter Hof einrichtet, erst bevor. Die Band installiert sich mittags in der Lobby des Hotels, unser Esssaal ist bereits für das Fest ummöbliert. Wir haben eine Rundfahrt in zwei Teilen vor uns und sehen die Hochzeits­gesellschaft erst bei unserer zweiten Rückkehr am Abend, als sie laut hupend in die Fabrikstraße einfährt, Braut und Bräutigam auf Videos und Fotos digital „verewigt“ werden und längere Zeit auf der Straße auf etwas für uns Unerkennbares warten. In den Pappeln versammelt sich wie jeden Abend der Krähenchor, und freundlicherweise wärmt die Sonne die Hochzeitsgesellschaft ein paar Augenblicke lang.

Zurück zum Vormittag. Da fahren wir über alle drei Brücken des Schloßmühlenteichs und in Stadtbezirke wie das ehemalige Kallkappen, die ich noch nicht gesehen habe und weiter nach Ragnit (Neman, so heißt auch die Memel auf Russisch), knapp 10 Kilometer von der Stadt entfernt. Man kommt hier hauptsächlich der Ordensburgruine wegen hin. Im Vergleich zu Sowjetsk hat diese Stadt hier, die man „die kleine Schwester Tilsits“ nannte, Krieg und Nachkriegszeiten architektonisch erstaunlich gut überstanden. Viele alte Häuser sind allerdings ganz oder teilweise verfallen, andere wenigstens teilweise renoviert. Manche Neubauten von 1970 oder 1980 schauen nur dem Stil nach neu aus. Häufig sind Dachziegel lose, und was Larissa „Schieferdächer“ nennt, schaut eher wie gewelltes Eternit aus. Man begegnet aber auch plakativer Postmoderne. Ganz neue Häuser stehen am Stadtrand, kleine Einfamilienhäuser mit klarer, funktionaler Gestaltung ebenso wie verspielte graue Miniatur-Neuschwansteins mit Türmchen und Zinnen und Mauern um das ganze Grundstück herum.

Die Vormittagsrundfahrt endet an der Memel bei der Königin-Luise-Brücke. Meine Mutter erzählt Larissa, wie früher das graue, von Wasseradern durchzogene Russlandeis in großen Schollen die Memel hinunterzog. Manchmal sei ein Reh oder ein Hase darauf gestanden und sie habe zu ihrem Großvater gesagt, er müsse die Tiere retten. Er sei dann jedes Mal mit ihr vom Fluss weggegangen und habe erst viel später gesagt, dass man diesen Tieren nicht helfen konnte. Mit einem Blick auf das litauische Memelufer sagt meine Mutter, dass die Bauern früher bei Hochwasser die Kühe in den Wohnungen im ersten Stock unterbrachten. Hochwasser gibt es zurzeit nicht. Das Wetter ist wechselhaft. Für gewöhnlich sei es stabil, sagt Frau P.

Nachmittags fahren wir nach Stollbeck und Splitter, zur Kirche an der Flotwellstraße, die die ehemalige Synagoge einschließt, und zum Waldfriedhof, auf dem mein Urgroßvater begraben war. Seit 1992 ist der Friedhof die Gedenkstätte für alle verlorenen Tilsiter Friedhöfe, die Initiative ging vom Kieler Ostpreußen-Verband aus. Wir fahren weiter nach Heinrichswalde (Slawsk) und besuchen die halb- aber nie fertig renovierte Kirche. Solche Halbheiten, sagt Larissa, sind hierzulande normal. Weiter geht es Richtung Groß Friedrichsdorf (benannt nach dem Erzherzog Friedrich, heute Gastellowo), durch die Elchniederungen, in Schlangenkurven Richtung Kreuzingen (hier gießt es in Strömen) und nach Tilsit zurück. Larissa’s Wissen über das alte Ostpreußen und das heutige Kaliningrader Gebiet ist unerschöpflich. Spannend, was sie alles erzählt – heute ist, es gab, früher war hier…. Unverzichtbar ist, wenn man über Ostpreußen spricht, das Imperfekt. Das nächste Mal, das ich mir nach wie vor nicht vorstellen kann, brächte ich wegen Larissa ein Tonband mit.

Zu Abend essen wir heute im relativ teuren Restaurant Ellis, weil im Tilsiter Hof ja Hochzeit ist. Das Essen finde ich lange nicht so gut wie im Tilsiter Hof, nur ein wenig hübscher präsen­tiert. Um halb acht sind wir bei Jakov Rosenblüm eingeladen, einem Radiomann litauischer Herkunft, der schon lange in Sowjetsk lebt und in Videofilmen das historische Tilsit mit der heutigen Stadt verknüpft. Als wir gegen halb elf ins Hotel zurückkommen, ist das Hochzeits­fest schon zu Ende. Es wird also, abgesehen von den Wände durchdringenden Fußball-Kommentaren meines Nachbarn K. eine ruhige Nacht.

 

24. Juli 2005

Unser letzter Tag in Tilsit. Ich nutze den Morgen für eine kurze Wanderung über die Pfennigbrücke des Schloßmühlenteichs durch die Sommerstrasse zum ehemaligen Stadtteil Kallkappen zum Jugendstilhaus, das mir am Vortag auf der Stadtrundfahrt auffiel. Es ist über und über mit Steinmetzarbeiten geschmückt und von Blumenbeeten umgeben. Früher wohnten hier Lehrer und Finanzbeamte drin.

Später wandere ich mit meiner Mutter durch die Fabrikstraße zur Kreuzkirche die Clausiusstraße hinauf, nach rechts hinein in Jakobsruh mit einem kleinen Abstecher zu einem winzigen Lebensmittelmarkt außerhalb des Parks. Jakobsruh ist recht verwildert. Wir durchqueren den Park auf der Hauptachse und kommen zur Lindenstraße, die wir langsam, und jede auf ihre Art staunend, entlanggehen. Wie vielleicht keine andere Straße zeugt diese hier vom ehemals prunkvollen, eleganten Tilsiter Leben. Ein Vexierbild von vollendeter und aufgehaltene Zerstörung des alten Architekturschatzes ist diese Straße und bemerkenswert auch darin, dass hier die Vorkriegsparzellierung noch existiert.

Wir wandern weiter zum Lenin mit den Hochzeitssträußen von den beiden Vortagen. Meine Mutter macht eine Zigarettenpause und kommt mit Frida, einer 81jährigen Wolgadeutschen, ins Gespräch. Das heißt: meine Mutter erzählt von sich und wie das früher hier in Tilsit war und zeigt Frida ein Foto von sich als Vierzehnjähriger und ihrem Lieblingsziegenbock im Kahn auf dem Splitterer Mühlenteich. Frida kam erst nach dem Krieg in das Kaliningrader Gebiet. Sie lädt uns ein zu einem Besuch in ihrem Haus, wenn wir das nächste Mal nach Sowjetsk kommen. Meine Mutter sagt: Ja, wir kommen bestimmt. Ich denke: Nein, ich nicht.

Dann suchen wir, zum wiederholten Mal, beim Anger vergebens das Haus, in dem mein Großvater ein paar Jahre wohnte und kommen über die Deutsche Straße zum Markt, der samstags und sonntags abgehalten wird und den es früher hier nicht gab. Melonen auf einer altertümlichen Waage darf ich nicht fotografieren, der Melonenhändler wird fuchsteufelswild. Einen Raptus angesichts des Fotoapparats hat auch der Anbieter von sehr schön anzusehendem süßen Kleingebäck. Grundsätzlich ist aber Fotografieren auf dem Markt unproblematisch. Die Frauen, die prachtvolle Welpen zu verkaufen haben, halten beispielsweise die kleinen Rassehündchen gerne fürs Foto hin.

Am Anfang unseres Spaziergangs fragte ich meine Mutter, wie sie nun, nach einigen Tagen, das alles hier so empfinde. Sie schäme sich dafür, antwortet sie, dass alles so heruntergekommen ist, wo sie doch den Leuten erzählt habe, wie elegant Tilsit sei. Nach einigem Nachfragen wegen des Schamgefühls sagt sie, man habe sie ja gewarnt hierher zu kommen. Abgesehen davon geht es meiner Mutter in der Stadt fast auf Meereshöhe physisch außerordentlich gut. Sie legt die vielen Kilometer unserer Stadtwanderungen ohne Pause zurück. Nach der Reise hat dann das Beschämtsein das Erleben von körperlichem Wohlbefinden völlig überholt. An Tilsit mag sie nicht mehr denken. „Wie man da die Menschen hausen lässt, in dieser Stadt, die so schön war“, entrüstet sich meine Mutter, und ich sage, ohne ihre Empörung dadurch zu mildern: „Das ist überall so auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, das ist nur für uns nicht schön“.

Nachmittags gehen wir ins Museum. Wir dürfen Fotokopien des Tilsiter Erbkatasters einsehen. Die verzeichneten Erbgänge reichen in die Zeit zurück, als Tilsit Stadtrecht erhielt – das war 1552. Der hilfsbereite Museumsdirektor spricht nur Russisch, aber irgendwie lässt es sich verständigen. Wir schauen eine Menge Erbgänge aus der verzweigten Familie meines Großvaters durch. Danach vergleichen wir die Einwohnerregister von 1938 und 1936 und schauen uns die alten Fotos und Ausstellungsstücke an. Draußen geht ein gewaltiger Regen nieder, aber das Café mit den feinen Kuchen erreichen wir kurz darauf bei Sonnenschein. Anschließend möchte meine Mutter im Kaufhaus Sadko, schräg gegenüber, Zigaretten kaufen. Aber an diesem Sonntag Nachmittag schlägt einem ein gewaltiger Knoblauchgeruch entgegen, der ganze Verkaufsraum ist voller Menschen und voller Knoblaucharoma, sodass wir umgehend kehrt machen und in ein anderes, ebenfalls sehr ansprechendes Lebensmittelgeschäft an der Hohen Straße gehen.

Bis wir die kurze Strecke zum Hotel zurückgelegt haben, hat es noch weitere zwei Male geregnet. Jedes Mal füllen sich die großen Pfützen, um die die Autofahrer netterweise Bögen fahren. Wenn unser Bus über Land durch solche Pfützen fährt, dann hört sich das jeweils wie an Felsen brandende Meereswellen an.

Die Zeit vor dem Abendessen nutze ich für Pfützenfotos. Manche Tilsiter Regenpfützen sind fast kleine Teiche, in denen sich die Häuser spiegeln. Die Fassaden der Vorkriegsgebäude sind so unbeschreiblich, dass mir der Kunstgriff der fotografierten Spiegelung angemessen erschien. Zuhause in der Schweiz merke ich, dass die Spiegelbilder ganz anders als meine erinnerten Stadtbilder sind; meine erinnerten Stadtbilder sind weniger retouchiert. Korrekterweise ist anzumerken: Wenn im Kaliningrader Gebiet alte Gebäude restauriert werden, dann ist das Ergebnis perfekt. In Tilsit/Sowjetsk betrifft dies nur wenige Liegenschaften. Eine steigende Zahl von Bewohnerinnen und Bewohnern setzt sich für die Bewahrung und Erneuerung der deutschen Hinterlassenschaften ein, aber vorerst fließen die Spenden aus dem Westen vornehmlich nach Königsberg.

 

25. Juli 2005

Montag, erste Etappe der Rückfahrt von Tilsit zunächst nach Gumbinnen (Gussew), Insterburg und Königsberg. In jeder Stadt steigen Mitreisende zu. Ein langer Tag liegt vor uns, was die Wegstrecke betrifft wie auch die Unwägbarkeiten am russisch-polnischen Grenzübergang. Aber wie bei der Hinfahrt geht das auf russischer Seite sensationell kurze 65 Minuten. Die polnische Abfertigung merken wir fast nicht. Ich schaue gerade zum Fenster raus, als eine Frauenstimme fragt „Zigaretten, Wodka?“ Wie Duty-Free-Verkauf im Flugzeug, denke ich und sehe erst dann, dass die Frage von der polnischen Zöllnerin stammt. Da ruft der stets schlagfertige Herr W. von der Hinterbank schon durch den Bus: „Welche Marken haben Sie denn?“

 


[1] Herrmann Sudermann: Die Reise nach Tilsit, 1917.

[2] Marion Gräfin Dönhoff: Namen die keiner mehr nennt – Ostpreußen Menschen und Geschichte. 2. Auflage, Eugen Diederichs Verlag 1989: S. 103/104

[3] Ibid., S.6

[4] Alle Orte des Kaliningrader Gebiets, auch alle Straßen, wurden russisch derart umbenannt, dass keine Beziehung zum ursprünglichen deutschen Namen besteht. Dass ich mich dieser alten deutschen Namen bediene, ist durch unser Thema der Spurensuche begründet und impliziert keine revisionistische Geschichtsauffassung.

[5] ibid., S. 11-12

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Letztes Update: 27.12.2005